LiA - Lebensqualität im Alter
Ein geriatrisches Versorgungsprojekt im Bayerischen Wald
Allgemeine Informationen
Das Ziel: Selbstständigkeit
In seinem räumlichen und sozialen Umfeld so lange wie möglich selbstbestimmt und weitgehend gesund zu leben, ist ein wichtiges Ziel alternder Menschen. Damit diese so lange wie möglich ihre Selbständigkeit erhalten können, werden von Patienten, Angehörigen und Mitarbeitern der medizinischen Fachberufe große Anstrengungen unternommen, um eine frühzeitige Einweisung in eine Klinik, die Übersiedlung in eine Altenpflegeeinrichtung oder die Bettlägerigkeit zu verhindern. Ziel unseres Projektes ist es, diese Einzelanstrengungen sinnvoll zu koordinieren und damit deren Effektivität zu steigern.
Aus hausärztlicher Sicht schränken drei wesentliche gesundheitliche Probleme das individuelle Ziel der Selbständigkeit ein:
• Multimorbidität mit zunehmendem Verlust lebenspraktischer Fähigkeiten
• Sturzereignisse mit nachfolgender Einschränkung der Mobilität bis hin zur Immobilität
• Demenzentwicklung mit Verlust der Persönlichkeit und Pflegebedürftigkeit
Ein Projekt, das vor allem im dezentralen ländlichen Raum die Lebensqualität älterer Menschen erhalten bzw. verbessern will, muss deshalb die folgenden Kernpunkte erfüllen:
Patienten sollen eine kontinuierliche und zeitnah angepasste multidisziplinäre Therapie erhalten – zugeschnitten auf ihre individuellen Wünsche und physischen und psychischen Bedürfnisse unter Einbeziehung ihrer persönlichen Erwartungen.
Angehörige sollen im Rahmen ihrer Möglichkeiten optimal in der Betreuung ihrer zu pflegenden Person unterstützt werden.
Mitarbeiter der medizinischen Fachberufe und der betreuende Hausarzt sollen durch die gemeinsamen Besprechungen
Anregungen erhalten, wie die eigene Therapie verbessert werden kann. Maßnahmen sollen koordiniert und durch die verschiedenen Blickwinkel auf das vorliegende Problem des Patienten optimiert werden.
Konkrete Wünsche der Patienten an LiA und bislang erreichte konkrete Ziele von LiA
Die Maßnahmen: Koordination und Kooperation
Die Gemeinschaftspraxis im Bayerwald hat aus diesem Grund 2007 das Projekt LIA gestartet, das diese Versorgungslücke schließen soll. Patienten der Praxis werden aufgrund von pathologischen Ergebnissen des Geriatrischen Assessments gezielt angesprochen. Ihnen und ihren Angehörigen wird eine intensive interdisziplinäre Betreuung angeboten. Patienten, die wünschen, an diesem Projekt teilzunehmen, werden in einer sechswöchentlich stattfindenden, fachübergreifenden Besprechung mit Physiotherapeuten, Ergotherapeutin, Pflegedienstmitarbeiterinnen, spezialisierter medizinischer Fachangestellten und Hausarzt vorgestellt. Ein interdisziplinärer Therapieplan wird durch die koordinierende medizinische Fachangestellte erstellt.
Alle sechs Wochen werden die Patienten im Team vorgestellt, die erreichten Fortschritte besprochen und die
weitere Therapie gemeinsam adjustiert.
1. Schritt | Durchführung des geriatrischen Assessments |
2. Schritt | Eruierung der individuellen Ziele des Patienten |
3. Schritt | Vorbereitung der Besprechung im interdisziplinären Team |
4. Schritt | Erste Besprechung im Team |
5. Schritt | Nach sechs Wochen erste Analyse durch die verschiedenen Fachgruppen |
6. Schritt: | Nach drei Monaten Besprechung mit den Angehörigen im Team |
7. Schritt: | Regelmäßige, sechswöchige Besprechungen im Team |
Dieser regelmäßige interdisziplinäre Austausch ermöglicht eine optimale Langzeit-Koordination, eine zeitnahe Reaktion auf Veränderungen und damit einen ökonomischen Einsatz der notwendigen Maßnahmen.
Um die Wünsche und Möglichkeiten der betreuenden Angehörigen optimal einzubinden, werden diese vierteljährlich zu den interdisziplinären Gesprächen eingeladen. Mit ihnen zusammen werden dann die weiteren Schritte geplant.
Die individuellen Ziele der Patienten werden regelmäßig im Team überprüft.
Ergebnisse
Ablauf- und Zeitplan des Projektes
Das Projekt wird seit seiner Gründung im April 2007 kontinuierlich durchgeführt. 2013 konnte an einem zweiten Standort (Rinchnach) und 2019 an einem dritten Standort (Lalling) implementiert werden. Bislang fanden insgesamt 187 Sitzungen des interdisziplinären Teams statt. Es wurden 197 Patienten in das Projekt eingebunden. 93 Patienten verstarben im Verlauf der 15 Projektjahre, nur 23 siedelten ins Altenheim um. 31 schieden aus persönlichen Gründen aus. Aktuell werden an den drei Standorten 50 geriatrische Patienten betreut. (Patientenzahlen im Projekt seit 2007)
Um den Zeit- und Arbeitsaufwand zu eruieren, wurden in den ersten Sitzungen nur wenige Patienten besprochen. Als der Zeitaufwand planbar war, konnten zunehmend mehr Patienten in die interdisziplinäre Betreuung aufgenommen werden. Inzwischen werden bis zu 20 Patienten pro Sitzung gemeinsam besprochen.
Während der Sitzungen des Teams wird die Behandlung des Patienten von allen Beteiligten konstruktiv kritisch beleuchtet. Die Medizinische Fachangestellte hat von jedem Therapeuten vorab die aktuellen Behandlungsdaten eingeholt. Diese werden allen Teilnehmer zur Verfügung gestellt. Gemeinsam wird ein individualisiertes Konzept erarbeitet, das die weitere Betreuung des Patienten festlegt.
Absprachen zwischen den Fachgruppen erhöhen die Effektivität der einzelnen Maßnahmen. Der Arzt übernimmt beispielsweise die Aufgabe, sich bei jedem Hausbesuch die neu erlernten krankengymnastischen Übungen zeigen zu lassen. Der Physiotherapeut achtet seinerseits darauf, dass bei jedem seiner Besuche das Gewicht gemessen wird, weil der Patient an einer Herzinsuffizienz leidet. Die Ergotherapeutin führt die Wohnungsbegehung zur Sturzprophylaxe durch und beantragt zusammen mit der Medizinischen Fachangestellten die notwendigen Hilfsmittel.
Derartige Absprachen verzahnen die Therapie und erhöhen die Effizienz der einzelnen Maßnahmen.
Finanzierung: Der Erfolg ist der Lohn
Der ehrenamtliche Aufwand für das zuerst als Pilotprojekt konzipierte interdisziplinäre Vorgehen ist groß. Bis auf die koordinierenden Medizinischen Fachangestellten, die für ihre Mitarbeit im Rahmen ihrer Praxistätigkeit honoriert werden, leisten alle Beteiligten ihren Beitrag ehrenamtlich. Der Aufwand lohnt sich. Das Team hat sich über die vielen Jahre teilweise personell erneuert, da gerade im Bereich der Therapeuten eine hohe Fluktuation herrscht. Konstant sind über die Jahre die MFAs, Altenpflegekräfte und Hausärzte dabei. Neue Therapeuten bringen sich sehr gerne ein, weil sie den multiprofessionellen Ansatz aus ihrer Klinikzeit schätzen.
Geschätzt wird von allen, dass die Zusammenarbeit der verschiedenen Fachgruppen für alle Beteiligten ausgesprochen bereichernd ist. Die Abstimmung der einzelnen therapeutischen Maßnahmen auf vorher gemeinsam festgelegte Ziele scheint dem Ziel, die Selbständigkeit der älteren Patienten zu erhalten, tatsächlich zuträglich zu sein.
Evaluation
Die Rückmeldungen von Angehörigen und Patienten sind ausgesprochen positiv. Die betreuenden Angehörigen werden aktiver und sicherer im Umgang mit Patienten. Der Rückhalt durch unser Team gibt ihnen das notwendige Selbstvertrauen.
Der initial intensive Einsatz von Ergotherapie, Physiotherapie und Pflegekräften kann im Laufe der Betreuungszeit sukzessive reduziert werden, da sich der Gesundheitszustand des Patienten stabilisiert oder bessert. Auch die Anleitung der Betreuungspersonen zeigt ihre Wirkung. Obwohl im Zeitverlauf eine Verschlechterung erwartet werden müsste, scheint es ein Erfolg unserer Arbeit zu sein, den Gesundheitszustand auch bei Hochbetagten und Multimorbiden stabil zu erhalten.
Eine wissenschaftlich sinnvolle Evaluation war bislang nicht möglich. Die Gruppe der betreuten Patienten ist individuell zu verschieden und die therapeutischen Interventionen zudem nicht einheitlich, so dass uns alle zu Rate gezogenen Fachleute von einer quantitativen wissenschaftlichen Auswertung abgeraten haben. Allerdings existieren mehrere Indikatoren für einen Erfolg unseres Projektes. Patienten lassen sich kontinuierlich im Projekt behandeln. Die individuellen Ziele der Patienten können weitgehend umgesetzt werden. Das Team ist trotz der zeitlichen Belastung durch unsere sechswöchigen Treffen über den gesamten Zeitraum weitgehend konstant gleich besetzt und aktiv. Angehörige von Patienten aus anderen Orten haben von unserem Projekt gehört und wünschen eine Betreuung. Krankenkassen und Medizinischer Dienst weisen Patienten und Angehörige auf unser Projekt hin.
2017 wurde unser Projekt dann qualitativ im Rahmen einer Masterarbeit der Sporthochschule Köln beleuchtet. Insgesamt wurden neun Patienten/innen des Programmes, neun Angehörige und fünf Experten interviewt. Zentrale Erkenntnisse bezüglich der Wirkung des Programmes sind, dass alle Betreuten gesundheitliche Verbesserungen erzielen konnten. Die motorischen Funktionen, die Aktivitäten des täglichen Lebens und die sozialen Kontakte konnten gestärkt werden. Darüber hinaus berichten einige Patienten/innen und deren Angehörige von einer enormen Entlastung und Erleichterung durch das Programm.
Die Verbesserungen werden u.a. der intensiven, umfassenden Betreuung und dem Gebrauch von Hilfsmitteln verdankt. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Erkenntnis, dass diese Verbesserungen mit den Zielen der Patienten/innen weitestgehend übereinstimmen. Das bedeutet, dass sich der Therapieplan des Programmes im Sinne von „value based health care“ an den Zielen der Patienten orientiert und ihnen dabei hilft, diese zu erreichen. Verbesserungen durch das Programm hatten auch einen positiven Einfluss auf die Lebensqualität der Patienten/innen.
Abschließend festzuhalten ist aufgrund der mündlichen Evaluation, dass Patienten und Angehörige von den Erfolgen der gemeinsamen Arbeit positiv überrascht sind. Auch das Team selber hat durch die gemeinsame Arbeit einen differenzierteren Blick auf die Behandlung der Patienten gewonnen und durch die Kooperation die eigene therapeutische Maßnahme optimieren können. Der durch die regelmäßigen Treffen vereinfachte Zugang zu den verschiedenen Behandlungsoptionen hat allen Beteiligten, Patienten, Angehörige und Therapeuten einen spürbaren Gewinn gebracht.
Ausblick
Großer logistischer Aufwand, viel persönliches, ehrenamtliches Engagement, weitgehende Akzeptanz durch die Betreuten und ihre Angehörigen, offensichtlicher Erfolg sowie viel Freude an der effektiven Zusammenarbeit stehen als Bilanz zu Buche. Eine solchermaßen strukturierte Betreuung älterer Patienten hat gute Chancen, auch in breiteren, engagierten Kreisen zur Anwendung zu kommen, wenn entsprechende Anreize für Patienten und Therapeuten gesetzt werden.
Unsere Gruppe wird unabhängig von der weiteren Entwicklung im Gesundheitswesen die Arbeit hoch motiviert weiterführen und sukzessive in weiteren Standorten implementieren.